Himmel oder Hölle?
 

( short story )

 – Irgendwo läutete es. Waren es Glocken, die er da gerade gehört hatte? Als Joe Fliederstein am Morgen seines siebzigsten Geburtstages mit schwerem Kopf erwachte, fand er sich nicht, wie erwartet, auf einer Parkbank wieder: Im Augenblick des Aufwachens war er – er hatte sich selbst dabei zusehen können – singend, und von mächtig tönendem Glockengeläut begleitet, durch eine Tür getreten. Und er wusste es sofort: Sein Erdenleben war gerade zu Ende gegangen, und er war im Wartezimmer zum Jüngsten Gericht angekommen. 

   In diesem Wartezimmer sah es aus wie in einem irdischen Wartezimmer. Rundum sah Joe Fliederstein Leute, die auf Stühlen hockten. Die ihn aus den Augenwinkeln anstarrten. Er erinnerte sich an das Wartezimmer eines irdischen Arbeitsamtes, das er zu Lebzeiten einige Male hatte aufsuchen müssen: Dort war er auch so angestarrt worden. Joe ging auf einen der Wartenden zu und fragte ihn: «Wird man hier aufgerufen?» Der Wartende blieb stumm, rührte sich nicht, bekam dann von irgendwoher einen Zettel zugesteckt, den er an Joe Fliederstein weiterreichte. «Anweisung», las Joe von dem Zettel ab, «wie du dich vorbereitest auf den Gerichtstag.» – Gerichtstag? – Und weiter: «So sollst du dich, der du nun durch die Tür getreten bist, also erinnern an die Jahre deines Erdendaseins und über sie richten», las Joe, «wirst ein Urteil sprechen über dich selbst und entscheiden, wo man dich in der Ewigkeit unterbringen soll.»
Wirst ein Urteil sprechen über dich selbst? Warum denn ich? Joe Fliederstein wollte den Zettel zurückgeben. Wollte ihn loswerden. Sollten doch erst einmal die anderen sich vorbereiten, die … die saßen doch schon länger hier herum! Wieso ausgerechnet er? Was war denn schon dran an seinem «Erdendasein», wie es auf dem Zettel hieß?
   Joe griff nach der Cognacflasche. Ein erprobter Handgriff. Aber jetzt war es ein Handgriff ins Leere. … Er hatte die Flasche unter der Parkbank abgestellt … und wo war die Flasche jetzt? Am Vorabend seines siebzigsten Geburtstages … Joe Fliederstein sieht sich in Gedanken auf die Bank zusteuern, er setzt sich, er entkorkt die Flasche mit geübtem Daumendruck … Herr im Himmel, na und? Er hatte sich einen teuren Cognac genehmigt, versehentliches Mitbringsel aus der Feinkostecke des Supermarktes … wurde ihm das hier oben jetzt als Kapitalverbrechen ausgelegt? Wo war die Flasche? … Bis auf einen letzten Schluck hatte er sie geleert, daran glaubte Joe sich zu erinnern. Ein letzter Schluck sollte reserviert bleiben für den neuen jungen Morgen, auf dass es ein gesegneter junger Morgen werde, so hatte er es sich ausgemalt. Er würde erwartungsvoll die Augen öffnen, in die Frühsonne blinzeln und diesen letzten Schluck langsam die Kehle hinunterrinnen lassen … oder auch teilen. Mit ihr. Mit der Rothaarigen. Die sich … war es gestern Abend? … zu ihm auf die Bank gesetzt hatte, so, als seien sie alte Bekannte … mit ihr zusammen hätte er auf ein neues Leben anstoßen können, ein letzter Schluck und dann gesegnete Enthaltsamkeit, das war der Plan! An seinem siebzigsten Geburtstag noch einmal von vorn anfangen und in ein Leben starten, das man guten Gewissens vorzeigen konnte, am Ende auch hier oben, wo war die Flasche? … Oder sollte ihm der letzte Schluck womöglich nicht vergönnt sein? Empörung kam in Joe auf. Wurde er um seine letzte Chance gebracht, geradezurücken, was er zu Lebzeiten verbockt hatte? 
   Joe blickte sich um. Hörte man ihm hier überhaupt zu? Keiner der Wartenden schien bereit zu sein, auf seine Fragen eine Antwort zu geben. Aha! So also wurde das hier oben geregelt! In Joe Fliederstein brodelte es. Auf brutale Art und Weise hatte man ihn in die Ewigkeit verfrachtet, so sah es doch jetzt aus, und hier sollte er nun entscheiden – er selbst, was für eine Hinterhältigkeit! – ob er sich den Himmel verdient hatte. Was, wenn er herausfände, dass die Hölle für ihn in Frage kommen könnte? Und dass er sich am Ende selbst dort einquartieren musste? Na, das wär‘ ja noch schöner! Außerdem: Er war doch noch gar nicht an der Reihe! Als Joe aber einen Blick auf die Wartenden warf, sah er, dass die sich zusammengerottet hatten. Dass sie jetzt wie die Zuschauer in einem Theater in einem Halbkreis zusammengepfercht vor ihm auf ihren Stühlen hockten. Vor ihm, dem Angeklagten, der unversehens – Joe Fliederstein nahm es mit Erschrecken wahr – im Scheinwerferlicht des Gerichtssaales stand. Zu dem sie nun aufschauten, als gierten sie danach, ihn in der Rolle des Richters über sich selbst zu erleben. Wo war die Flasche?
Joe Fliederstein wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Für einen Augenblick hatte es ihm die Sprache verschlagen. Er stand jetzt also vor Gericht! Und die Zuschauer im Saal guckten ihn geradezu herausfordernd an! Als wollten sie ihm signalisieren: Hallo, Sie da, Angeklagter, kommen Sie umgehend zur Sache! Wie hat es sich da unten denn nun abgespielt?
«Herrschaften, Geduld!» Joe versuchte abzuwiegeln. «Ich bin ja schon dabei, aber reden Sie mal aus dem Stand über Ihr … Ihr Erdendasein, na, und fragen Sie sich, ob Sie erdenwärts auch alles richtig gemacht haben, das ist doch gar nicht so einfach … vielleicht sagt mir mal jemand, was aus meinem Cognac geworden ist! Wo ist die Flasche? … Natürlich erhebe ich Anspruch auf ein himmlisches Langzeiteckchen, warum denn auch nicht! So ein Eckchen würde mir schon genügen. Aber steht es mir auch zu? Das ist doch, wenn ich den Zettel richtig deute, hier die Frage. Wer bin ich denn, dass ich es mir auch verdient hätte?» Joe Fliederstein blickte hilfesuchend in die Runde, als könne er von dort auf eine Antwort hoffen. Die Zuschauer blieben stumm.
   Joe knöpfte sich das Hemd auf. Luft! Tiefes Einatmen durch die Nase … das Hemd müsste mal wieder gewaschen werden, dachte er. 
   «Unsere Familie, die Fliedersteins …» – Joe war nun entschlossen, einfach draufloszureden, er hatte keine Vorstellung davon, wie er vor diesem Jüngsten Gericht bestehen sollte, ob man sich für sein Erdendasein überhaupt interessierte, ob er tatsächlich selbst darüber ein Urteil sprechen durfte … oder ob er schon mittendrin steckte im Höllenfeuer – «unsere Familie hat immer ein sehr eingeschränktes Erdendasein geführt», bekannte Joe. «Wir haben uns nie, wie soll ich es ausdrücken, auf Wirklichkeiten eingelassen. Das lag nicht in unserer Natur, weiß der Teufel, warum – oh, ich bitte das Gericht um Entschuldigung!» Joe Fliederstein – als habe ihn da gerade der Hammer des Gerichtsvorsitzenden wegen unzulässiger Wortwahl zur Ordnung gerufen – war zusammengezuckt. «Ich möchte es einmal so sagen: Immer haben wir Fliedersteins uns vor den Wirklichkeiten gedrückt. Waren im Gedanklichen unterwegs. Was ich damit andeuten möchte: Die wirkliche Welt – wir Fliedersteins haben uns da herausgehalten. In den erfundenen Welten haben wir geglänzt. Und insofern habe auch ich nur ein, wie soll ich es sagen, ein schattenhaft geführtes Erdendasein anzubieten. Es gibt da nichts wirklich Greifbares, das man hier verhandeln könnte. Also … also müsste ich doch … ich meine … für eine Einquartierung im Himmel müsste das doch reichen … ich meine, damit müsste ich doch mindestens für den Himmel vorgemerkt sein, oder? Ich habe ja nichts … wie soll ich es zusammenfassen: Ich habe ja nichts angestellt!»
   Joe Fliederstein hörte auf einmal Gesang. Sie sangen. Die Engel, vermutete er. Oder war es nur der eine Engel? Der … der rothaarige? Irgendwo hinter den Wänden des Gerichtssaales sangen sie La Paloma, Joe Fliedersteins Lieblingslied. «Auf, Matrosen, ohé», sangen sie, «einmal muss es vorbei sein, einmal holt uns die See und das Meer gibt keinen von uns zurück …» – Aber wieso denn die See? Er war doch nicht ertrunken! Er war durch eine Tür getreten! Und plötzlich erinnerte Joe sich: Beim Hindurchgehen war er selbst es gewesen, der La Paloma gesungen hatte. Und jetzt sangen es die Engel. Wo war die Flasche?
«Nun, als Seemann …» – Joe versuchte es nach einem Augenblick des Nachsinnens zu erklären – «in meinem Erdendasein bin ich hin und wieder auch in der Rolle des Seemanns unterwegs gewesen, ja, in der Tat. Aber eben nur gedanklich. Und, ja, ich wäre auch gern einer gewesen, ein wirklicher Seemann, sogar leidenschaftlich gern. In meiner Kindheit, zum Beispiel, ich weiß es noch genau. Aber schließlich musste ich mich doch für einen praktikableren Beruf entscheiden. Der Familientradition folgend. Mein Großvater Bartholomä Fliederstein, 19. Jahrhundert, vielleicht erinnern Sie sich, Bartholomä hat in der Nachfolge Schillers gearbeitet: als Balladendichter. Mein Vater versuchte sein Glück als Sonette schreibender Studienrat. Na, und ich selbst darf mich zur Spezies der sogenannten Volksdichter zählen. Ich habe nach Postkartenmotiven den Schwarzwald besungen und die lippische Heide, in anrührenden Versen, doch, doch. Man findet mich auf Kalendern gedruckt und manchmal in den Reiseheften der Deutschen Bahn. Und, wenn ich das in aller Bescheidenheit hinzufügen darf: Meine Hymnen an den Württemberger Trollinger wurden von schönen starken Württembergerinnen immer gerne vorgetragen. So war ich der Mittelpunkt der Volksfeste. Und, wie man sich vorstellen kann, entfaltete sich eine angeborene Trinkfestigkeit dabei aufs Erfreulichste.» Joe hielt inne: Wo war die Flasche? – «Kurzum», fuhr er fort, «einen Beruf jenseits aller handfesten Wirklichkeiten habe ich ausgeübt, wenn ich es einmal so umreißen darf. Mit geringem Einkommen. Vom Arbeitsamt manchmal gefördert und manchmal auch nicht. Mein Leben spielte sich hauptsächlich an meinem Schreibtisch ab oder auf den Parkbänken in der Umgebung. Von dort aus war ich natürlich auch auf den Meeren der Welt unterwegs, doch, doch, aber eben nur schattenhaft, mit einer Pulle Rotwein als Gruß an die Heimat, um es einmal salopp zu sagen. Als literarisch herumvagabundierender Seemannsentwurf, gewissermaßen … mache ich mich verständlich?»
   Im Gerichtssaal wurde es auf einmal unruhig. Joe Fliederstein fragte sich, ob er gerade etwas Falsches gesagt hatte. Etwas, welches das Bild, das er von sich zu zeichnen versucht hatte, ins Zwielicht gerückt haben konnte. Die Zuschauer schienen sich plötzlich in eine heftige Diskussion verstrickt zu haben. Die geflüstert geführt wurde. Joe hörte einen der Zuschauer flüstern: «Ich habe einen Anspruch darauf!» Und ein anderer hielt flüsternd dagegen: «Wenn überhaupt, dann doch erst einmal ich!» – «Wenn Sie erlauben», rief Joe den Flüsternden zu … «Du hältst jetzt erst einmal die Klappe!» bellte ein Flüsterer zurück. Dann löste er sich aus der Runde und kam auf Joe Fliederstein zu. Langsam. Und Joe erschrak. Erschrak bis ins Mark. Dieser Flüsterer war … war er selbst! Er, Joe Fliederstein, den er da herankommen sah. Er erkannte sich sofort.
   «Ich sehe es dir an, Joe», sagte der Herankommende, «du ahnst, wer ich bin.» – «Der … der …» – «Ganz recht! Der Seemann, der du hättest sein können, wenn du mich damals herausgelassen hättest. Damals, als ich noch ganz ungeniert in deinen Gedanken herumspazieren durfte.» – «Ach, Gott, ja …» Joe Fliederstein schluckte, schluckte an einem Kloß, den er nicht hinunterbekam. – «Aber dummerweise», fuhr der Seemann fort, «dummerweise bin ich damals nicht zum Einsatz gekommen. Du hast mich ausgebremst, Joe. Und warum?» – Joe nickte dem Seemann hilflos lächelnd zu, als wollte er sagen: Selbstverständlich tut mir das immer noch leid! – «Du hast mich verkümmern lassen, Joe Fliederstein, ist es nicht so? Nichts als ein läppisches Fantasiegebilde habe ich mit dir zusammen sein dürfen! Das du irgendwann als flüchtige Erinnerung entsorgt hast! Stimmt doch, oder? Siehst du, und das habe ich als ungerecht empfunden. Damals. Um nicht zu sagen: als widernatürlich. Bis auf den heutigen Tag! Und deshalb, Joe, fordere ich von dir Wiedergutmachung!»
   «Und ich auch!» wurde gerufen. Joe Fliederstein zuckte zusammen. Sah unvermittelt einen Anderen auf sich zukommen. Einen mit einer dicken gelben Nase. Auch ihn erkannte er sofort. Wieder war er es selbst. Er selbst in papageienhafter Aufmachung. – «Du erinnerst dich an mich?» forschte der Gelbe. «Hattest den Zirkusclown in dir entdeckt. Damals. Wolltest die Welt auf den Kopf stellen, Joe, weißt du noch? Hattest mich fix und fertig in deinem Schädel und gedachtest mich am Tag des alljährlichen Familientreffens herauszulassen, erinnerst du dich? Die Familie erschrecken! In Verrücktheiten schwelgen! Damals warst du so etwas wie ein Provokateur im Anfangsstadium, Joe! Und Provokateur auf Lebenszeit wolltest du später einmal werden – so jedenfalls hattest du es geplant. Und ich war Teil dieses Planes. Aber dann hast du dich gedrückt! Leider! Ich endete irgendwann in der Ablage. Tja. Darunter habe ich natürlich gelitten. Bis heute. Und deshalb sage ich es dir unverhohlen ins Gesicht: Du solltest mich endlich herauslassen, Joe, du bist es mir schuldig!»
   «Und mir erst recht!» – Diese Stimme! – Joe Fliederstein lief jäh ein Schauer über den Rücken. Diese einschmeichelnde Stimme! Er erkannte sie sofort. Seine Stimme war es. Sie kam aus einer anderen Zeit. Einer wunderbaren Zeit. Er hatte diese Stimme nie vergessen können. Sie klang noch immer in ihm nach! Und jetzt kam sie auf ihn zu! Wo war die Flasche? – «Du weißt, Joe, wer du hättest sein können? Damals, Joe? Zusammen mit mir? Du erinnerst dich an Rosa Helene?» – Joe erinnerte sich sofort. – «Denkst du noch an das Muttermal auf ihrer linken Pobacke, Joe? Das wir auf der Liegewiese im Stadtpark entdeckt hatten? Du und ich? Weißt du noch, was wir ihr damals versprochen haben? Du und ich! Der Liebe unseres Lebens, wie wir sie genannt haben? Wir hätten den Himmel für sie erobern können, Joe, wenn du mich damals von der Leine gelassen hättest. Wenn du dich aus deiner Krämerseele herausgeschält hättest, Joe, damals in jener Nacht, die auf den Tag im Stadtpark gefolgt war. Denkst du noch manchmal an jene Nacht mit Mond? Rosa Helene hatte uns hinters Haus gelockt, sie küsste dich, weil du dich zu einem Kuss nicht entschließen konntest. Sie küsste dich ein zweites Mal, sogar herausfordernder – da aber hat deine Krämerseele unvermittelt Alarm geschlagen, Joe Fliederstein. Du hast Rosa Helene das Abenteuer verweigert, auf das sie gehofft hatte. Hast gekniffen. Und mir, dem Eroberer in dir, hast du einen Tritt gegeben, Joe, wolltest mich und Rosa Helene nicht in dein Leben hineinlassen. Eine Frechheit, Joe, findest du nicht? Eine Frechheit dir selbst gegenüber, Joe! Und Rosa Helene gegenüber, nicht wahr? Hast sie seit jener Nacht mit Mond niemals wiedergesehen? Warum wohl? Sie hat dein Kneifen damals als Demütigung empfunden. Ist dir davongelaufen. Eine Demütigung, die du endlich wiedergutmachen solltest, Joe. Das bist du ihr schuldig!»
   «Wiedergutmachen solltest!» klang es jetzt wie ein Echo von überallher. «Das bist du uns schuldig!» wurde gerufen. Joe zitterte. Wo war die Flasche?
   «Du kannst selbstverständlich hier oben bleiben, Joe», war im gleichen Augenblick zu hören, «du kannst bleiben und dir hier oben ein himmlisches Langzeiteckchen einrichten, Joe, denn du hast dir den Himmel verdient! Weiß Gott, ja! Dein Erdendasein, wie du es hier vorgetragen hast, taugt nämlich nicht für die Hölle! Zu langweilig!»
   Joe Fliederstein überlief es heiß. Wider seinen Willen rieb er sich die Hände. Wie war das? Er durfte bleiben? Durfte sich im Himmel einquartieren? Niemand würde ihn daran hindern? Er hatte sich den Himmel verdient – war ihm das gerade offenbart worden? 
   Dann aber … dann sah er sie! Sah sie plötzlich alle auf sich zukommen. Der Gerichtssaal war auf einmal voll von ihnen. Und es wurden immer mehr. Und alle mit seinem Gesicht. Alle kamen jetzt auf ihn zu. Bedrängten ihn. Stupsten ihn an. Schoben ihn vor sich her. Und sie riefen: «Es ist dein siebzigster Geburtstag, Joe! Ein Weilchen könntest du da unten noch herumfuhrwerken, meinst du nicht auch? Könntest einen von uns mit nach unten nehmen, dafür würde deine Zeit noch reichen!» Alle riefen es jetzt. Alle mit seiner Stimme: «Nimm mich mit, Joe!» 
   Und eine Glocke läutete. Das Jenseits ließ wieder die Glocken läuten. Joe Fliederstein hätte gern Halleluja gerufen: Glockengeläut zu seinem Einzug in die Ewigkeit, wie feierlich! – «Ich will aber nicht!» rief Joe Fliederstein. «Ich will nicht mehr nach unten! Ich habe mir den Himmel verdient, verdammtnochmal!» 
   Und sie schubsten ihn weiter vor sich her und riefen: «Mit einem von uns solltest du es noch einmal versuchen, Joe! Egal mit welchem! Such dir einen aus! Den Zirkusclown, wenn du willst! Den Stadtpark-Casanova! Such dir einen aus! Mit ihm zusammen wirst du unten einen letzten Anlauf nehmen! So ist es beschlossen! Gerichtsbeschluss! Dein letzter Anlauf! Damit du dich demnächst mit einem verhandelbaren Schicksal hier oben sehen lassen kannst! Die Urteilsverkündung ist vertagt!» Und Joe Fliederstein fiel. Und fiel.
   Er schwebte aus dem Gerichtssaal hinaus und fiel. 
Hörte die Stimmen, die ihm hinterhertönten, die ihn einzuholen drohten, und er fiel. 
   «Versuch es mit mir!» rief eine Stimme. «Oder mit mir!» eine andere. 
   Und Joe fiel. Tiefer und tiefer. 
   «Dein Leben wirst du noch eine Weile aushalten müssen, Joe», wurde ihm hinterhergerufen. 
   Und wieder läutete es. 
   Und Joe fiel und fiel und schreckte auf, rieb sich die Augen und sah sich um. Er saß auf der Parkbank. Und wieder läutete es. Eine Kuh stand vor ihm. Die Kuh hatte ein Bündel Blumen im Maul. Eine Frau stand neben der Kuh. Die Rothaarige. Sie hielt die Kuh mit beiden Händen an einer Leine. Die Kuh schüttelte sich, und die Glocke um ihren Hals läutete. Die Frau lächelte. «Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Joe», sagte sie. – Joe Fliederstein erschrak. Der Schrecken durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag. Er wusste auf einmal, wer sie war. «Sie sind …», Joe hörte den Klang seiner Stimme, «Sie sind? … Du bist es? … Woher kommst du?»
   Die Frau lächelte.
   «Setz dich doch zu mir, Rosa Helene, alles wird gut, wir starten das Leben noch einmal von vorn, so ist es im Himmel beschlossen worden, wir beide können die ganze Welt erobern!»
   Die Frau lächelte. 
   Und lächelnd band sie die Kuh an der Parkbank fest. Setzte sich neben Joe Fliederstein. Dann hielt sie eine Cognacflasche hoch und sagte: «Den letzten Schluck aus deiner Flasche, Joe, hab ich schon mal auf unsere Gesundheit gekippt! Aber, wie du siehst: Für Nachschub aus dem Supermarkt ist gesorgt!»

«Man muss immer trunken sein! Das ist alles, die einzige Lösung. Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu spüren, das eure Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt, müsst ihr euch berauschen, zügellos. Doch womit? Mit Wein, Poesie, Musik oder mit Tugend, womit ihr wollt. Aber berauschet euch!»
   (Charles Baudelaire)