Ich-Betrachtung

( short story )

– Ein frühlingswarmer Freitagabend kündigt sich an. Motten flattern gegen Schaufensterscheiben, Liebespaare bummeln, Autofahrer hupen. Der Bürgermeister von Himmelsrode hat sich mit Thekla Schmidt-Töff, der Kulturamtsleiterin der Stadt, in ein Hinterzimmer zurückgezogen. Dort feilen sie gemeinsam an der Rede zur Eröffnung der Ausstellung Ichbetrachtung.

Mit Anbruch der Dämmerung macht sich Serafine Moll auf den Weg zur städtischen Kunstgalerie.

Die Himmelsroder Rundschau hatte auf der Titelseite ihrer Freitagsausgabe einen Bericht über die Künstlerin Bibi de Boo veröffentlicht. Darin war die Rede von De Boos überregionaler Bedeutung, man sah sie in der Nähe großer Namen der Moderne, freilich verwies man auch auf irritierende Eigenwilligkeiten: So habe De Boo es der Presse verwehrt, vor Eröffnung der aktuellen Ausstellung einen Blick auf ihre Arbeiten zu werfen. Man könne den Lesern also keinen Hinweis darauf geben, was da zu erwarten sei. So viel aber doch: Wie bei einer Vernissage üblich, rechne man auch heute mit einer geradezu exzentrisch gekleideten Besucherschaft, denn das sei Himmelsroder Tradition und werde mittlerweile sogar von Berlin kopiert.
   All das hatte Serafine bei ihrer Morgenlektüre im Büro begierig aufgenommen, ja, es versetzte sie in eine geradezu rauschhafte Aufregung. Und sie fasste einen Entschluss: Am Vorbild lernen! – das sollte von nun an ihr Leitspruch sein. So schrieb sie es nach Feierabend dann auch mit dem neu gekauften Lippenstift auf den Garderobenspiegel im Flur: Am Vorbild lernen, wo immer sich Gelegenheit bietet! Sie würde zu Bibis Ausstellung gehen! Würde einen Blick werfen in die schillernde Welt der schönen Künste, der sie sich bisher verweigert hatte! Kunst – das war für Serafine etwas Fremdes, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. Etwas für Leute, die bemerkt wurden. Sie, die namenlose Buchhalterin, sah allenfalls in ihrem Säulenkaktus einen Hauch von schillernder Schönheit aufscheinen, wenn er sie in der Morgensonne anblitzte. Aber Kunst? Über ihrem Wohnzimmersofa hing ein Bild – Türkisvase mit Mohn – von einem Franzosen, Odilon Redon, eine Wiesenblumenstimmung, die Serafine in einem Anflug von Wehmut bei einem Kunstblattversand gekauft hatte, weil der Name des Malers Erinnerungen weckte an ihren Jugendfreund Odin, Kosename Odinle, der nach einer kurzen Affäre mit ihr vom Nesselfieber befallen wurde und zur Regeneration der Haut bei Freya, einer Apothekerin, ein neues Glück zu suchen begann. Die Türkisvase füllte seither die Tapetenleere über dem Sofa aus, und so war sie ihrer Bestimmung zugeführt. An Kunst hatte Serafine dabei nicht gedacht.

Von der städtischen Galerie herüber kamen Serafine die rollenden Bässe eines Boogie-Woogie-Pianos entgegengewummert. Sie hielt sich für einen Moment die Ohren zu. Entschied dann aber, das Gewummer als Kunst einzuordnen und nahm die Hände herunter. Irgendwann verlor sich der Lärm in den Geräuschen des Abends.
   Ein paar Schritte vom Galerieeingang entfernt blieb Serafine hinter einer Plakatsäule stehen: Sie wollte nicht gesehen werden. Nicht auffallen. Wollte warten.
   Die ersten Besucher zeigten sich.
   «Ob die Künstlerin schon da ist?» fragte im Vorbeigehen ein Kahlkopf eine Blauhaarige.
   Einige Besucher kamen gekleidet wie für einen Kostümball, so empfand es Serafine. Ein langer Dünner trabte an ihr vorbei in einer goldschwarz karierten Schottenkluft. Ein Damenduo – Serafine guckte zweimal hin – präsentierte sich nackt in noppenbespickte Klarsichtfolie eingeschlagen. Und Serafine fragte sich, ob sie in ihrem schlichten Trenchcoat unter all dem Extravaganten womöglich erst recht auffallen könnte.
   Endlich dann, im chromfunkelnden Oldtimer mit offenem Verdeck, fand sich auch Bibi de Boo ein. In Begleitung eines Braungebrannten. Der, so schien es, nicht aussteigen wollte und von Bibi am Ohrläppchen vom Beifahrersitz gezogen wurde.
Serafine war überwältigt von Bibis Auftritt: Sie trug ein krokodilgrün geschupptes Lederkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, und sie ging barfuß. Der Braungebrannte – wie war das einzuschätzen? – der kam als eine Art Kino-Indianer: Feder am Hinterkopf, wehendes Hemd, rotlederne Schnürsandalen bis zu den Knien hoch. Serafine ertappte sich bei einem Grinsen.
   Der Abendwind fächelte einen kurzen Wortwechsel zu ihr herüber.
   «Zügig, Winnetou! Wir sollten die Leute nicht warten lassen!»
   «Verdammtnochmal, ich will nicht!»
   «Was willst du nicht?»
   «Wie seh ich denn aus!»
   «Zum Anknabbern!»
   «Du machst mich zum Clown, warum?»
   «Winnetou, mein Häuptling, du tust, was ich dir sage, du möchtest doch, dass ich dich am Leben lasse, oder? Also wirst du gehorchen!»
   «Was … was machen wir überhaupt da drin? Irgendwas mit Kunst?»
   «Ich mache! Du spielst Kundschaft!»
   «Bodyguard kann ich besser!»
   «Ist vergeben! Los, komm!»
   Der Braungebrannte spuckte einen Kaugummi aus. Dann schloss sich hinter ihnen die Eingangstür zur Galerie.
   Wenige Augenblicke später ließ sich Serafine mit dem Strom der Leute in den Ausstellungsraum treiben.
   Hinter der Eingangstür hatte sich der Braungebrannte postiert. Guckte einer vorbeidrängenden Tattooschönheit auf die einladend angehobenen Brüste.
   Der Ausstellungsraum war in flirrendes Licht getaucht. Man begrüßte sich. Schlenderte. Griff zu den Sektkelchen, die von lautlos schwebenden Wesen gereicht wurden. Man trug Kennerschaft auf der Stirn.
   Rundum waren Staffeleien aufgestellt. Mit pinkfarbenen Tüchern zugehängte Staffeleien. Serafine dachte an die Zeitungsmeldung: Bibi liebte offenbar die Geheimnistuerei, wie aufregend! Hier und da wurde versucht, einen Blick hinter eines der Tücher zu werfen, doch sofort stoppte dann eine automatisch abspulende Stimme das Vorhaben: «Finger weg!» mahnte die Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien. Das löste bei Ertappten und Umstehenden nervöse Heiterkeit aus.
   Jemand klopfte an ein Glas.
   Serafine suchte in der Menge Bibi – wo war sie?
   «Ruhe!» wurde gerufen.
   «Ich als Bürgermeister unserer schönen Stadt», begann ein schwitzender Dicker eine Rede, «ich begrüße Sie herzlich, und ich darf annehmen, meine Damen und Herren, liebe Kunstbegeisterte – wie ich sehe, haben Sie sich, ihrer Kreativität folgend, einfallsreich in Schale geworfen – ich darf annehmen, Sie hoffen, wie ich, auf einen Abend der Einmaligkeit!» Der Bürgermeister tupfte sich die Stirn ab und senkte die Stimme: «Vielleicht auch auf einen Abend des Erschreckens, denn bei Frau de Boo weiß man ja nie!» Gelächter. Beifall. «Wir alle ahnen es doch, nicht wahr, meine Damen und Herren, was da auf uns zukommen wird. Nämlich: das Unerwartete. Vielleicht sogar: das Unerklärliche. Wenn ich mich im Saal umschaue, sehe ich allerdings noch nichts davon. Die Kunst gibt sich noch verhüllt. Frau Schmidt-Töff – ah, da hinten steht sie und winkt! – unsere Kulturamtsleiterin! Sie hat mich vor ein paar Minuten noch daran erinnert, und ich gebe ihre Worte jetzt gerne weiter an Sie, meine Damen und Herren: Das Geheimnis der Kunst ist das Geheimnis! In diesem Sinne rufe ich Ihnen zu: Die Ausstellung ist eröffnet!»
Händeklatschen. Von irgendwoher machte das Boogie-Woogie-Piano wieder auf sich aufmerksam, der Pianist sang: Kill me charming snake.
   Serafine hielt den Atem an: Bibi kam! Vom Bässerollen des Pianos untermalt, schritt sie in die Mitte des Ausstellungsraumes. Langsam. Lächelnd. Sie glitt an den Besuchern vorbei wie … Serafine suchte nach einem Vergleich … ihre Vorliebe für mythologische Frauengestalten spielte ihr das Wort Schicksalsgöttin zu. Ja! Bibis Auftritt hatte etwas schicksalhaft Beschwörendes! Vielleicht sogar Bedrohendes! Serafine schloss die Augen. Und riss sie sofort wieder auf, als könne sie sich so das atemberaubende Bild neu vor Augen holen.
   Das Piano war verstummt. Bibi war stehengeblieben. Blickte in die Runde. «Ich bin Künstlerin! Alles, was ich mache, ist Kunst!» sagte sie lächelnd. «Alles, was ihr heute machen werdet, wird Kunst sein!» setzte sie hinzu.
   Man quittierte Bibis Worte mit: «Ah!» Ein Piercinggesicht variierte mit: «Geil!» Und dann, einer einladenden Geste Bibi de Boos folgend, setzte man sich in Bewegung. Murmelnd. Erwartungsvoll. Verteilte sich vor den zugehängten Staffeleien.
Serafine ließ sich vom Sog der Neugierigen mitnehmen. Steuerte eine Staffelei an und fand eine Lücke zwischen der Blauhaarigen und dem Kahlkopf, an die sie sich erinnerte. Die Blauhaarige erklärte dem Kahlkopf gerade, zudringlich flüsternd, das Wort: Individualspaltung. Dann, mit einem «Aha!», verstummte sie. Serafine sah, wie die Tücher sich lautlos von den Staffeleien lösten und zu Boden glitten.
   Die Besucher vor den Staffeleien guckten.
   Guckten verblüfft.
   Guckten gebannt.
   Alle standen sich selbst gegenüber.
   Guckten sich an und wurden angeguckt.
   Sahen sich widergespiegelt in Bibi de Boos Bildern.
   Widergespiegelt?
   Waren es Bilder?
   Serafine bemerkte, dass ihrem Spiegelbild der Mund offen stand. Der Kahlkopf neben ihr leckte sich die Lippen. Unwillkürlich tat sie es ihm nach, leckte sich die Lippen. Aber sie sah es dann nicht. Der Mund stand ihr offen. Immer noch. Sie suchte nach einer Erklärung. Nur der erste Augenblick war festgehalten … war es so? Nur der Augenblick, als sie den Mund öffnete, der war zum Bild geworden … das sich nun aber … es veränderte sich! Zeitlupenlangsam flossen die Farben in dem Bild auseinander, die Konturen brachen auf und verzogen sich … Serafine sah, wie ihr Gesicht und ganz langsam der Bauch … wie sie selbst sich verwandelte, wie aus ihrem Gegenüber … aber was bedeutete das? … sie sah, wie ein grau ausfransender Spuk daraus wurde, so kam es ihr vor. Der Kahlkopf neben ihr verzog sich langsam zu einer matschenden Klecksgestalt. Andere, die in dem Bild um sie herumstanden, lösten sich in Strichfiguren auf.
   Jemand klatschte. «Bravo!»
   Jemand zischte: «Unverschämtheit!»
   Jemand murmelte: «Kunst verdattert!»
   Serafine starrte auf ihr zerfließendes Bild.
   Die Blauhaarige wandte sich an die Umstehenden: «Sie kennen mich, Herrschaften, Lilian Lösel, Kulturseite, Himmelsroder Rundschau, nicht wahr, da eröffnet sich uns doch eine Menge Interpretationsspielraum! Bibi de Boo hat den Betrachter, hat uns alle, ich glaube, so darf man es vermuten, eingesperrt in diesen Bildern, auf dass wir in der Begegnung mit uns selbst lernen, uns zu sehen …!
   «Macht sich über uns lustig, die Frau Künstlerin, oder?» kam als Zwischenruf.
   «Technischer Firlefanz!» wurde gerufen.
   Die Zwischenrufe schaukelten sich gegenseitig hoch.
«Wenn Sie uns fragen», ließ sich das klarsichtfolienverpackte Damenduo vernehmen, «Kunst ist immer auch ein Schlag ins Kontor, wie man hier sieht!»
   «Genau! Man fühlt sich irgendwie am Arsch!» bestätigte das Piercinggesicht kichernd.
   «Ich fühle mich wohltuend vereinnahmt!» merkte eine Dame mit Tellerhut an.
   «Kunst verwandelt!» erklärte die Kulturredakteurin der Rundschau.
   «Ach, Sie mit Ihrem Gequake!»
   «Für Ihre Ahnungslosigkeit bin ich nicht verantwortlich!» konterte die Kulturredakteurin.
   «Ich jedenfalls mache hiermit meine Rechte geltend!» brüllte über die Köpfe der Besucher hinweg unvermittelt laut und herausfordernd der Braungebrannte. «Nämlich: Ich bin Teil dieses Bildes hier, wie man noch deutlich sieht, also ist das Bild auch ein Teil von mir! Jemand Interesse? Mein Teil steht zum Verkauf! Mindestgebot 10.000 Euro!»
   Der Einfall fand Nachahmer. «Mein Teil zum Sparpreis!» bot der Schottenrock an. Weitere Teile wurden ausgerufen. Die Tattooschönheit empfahl sich im Sonderangebot, Ratenzahlung inklusive. Weitere Geschäfte wurden angezettelt. Stimmengewirr. Händeklatschen. Pfiffe. Gelächter. Chaos.
   «Hier geht es ja zu wie im Tollhaus!» Der Bürgermeister bat um Ruhe. «Hören Sie mir doch zu!» Er schwitzte enorm. «Frau Schmidt-Töff hat mir gerade nahegelegt, meine Damen und Herren, darauf hinzuweisen: Wir alle … nicht wahr, wir alle sind heute Teil eines Gesamtkunstwerks geworden, das es so noch nicht gegeben hat!»
   Jemand rief: «Kleinholz!»
   Der Bürgermeister tupfte sich die Stirn ab. «Das es zu bewahren gilt!» fügte er an. «Das wir als unzerstörbares Ganzes in den Kulturbesitz der Stadt überführen wollen …»
Protestrufe.
   «Ich unterstütze den städtischen Kulturbesitz!» ereiferte sich die Dame mit dem Tellerhut. Und setzte hinzu: «Bibi hat uns in einem Akt künstlerischen Wollens heute alle miteinander unsterblich gemacht, so muss man es doch interpretieren, nicht wahr?»
   Der Bürgermeister nickte dem Tellerhut dankbar zu. Neue Gebote wurden ausgerufen. Der Braungebrannte erhöhte seinen Preis auf 20.000 Euro.
   Wo war Bibi? Serafine kam sich plötzlich allein gelassen vor. Das Gewühl, der Tumult in der Galerie, alles engte sie jetzt ein. Machte sie hilflos. Sie entdeckte einen Stuhl. Dorthin kämpfte sie sich durch. Setzte sich. Versuchte zu Atem zu kommen. Wo war Bibi? Sie wollte in Bibis Gesicht sehen. Wollte ihr vom Gesicht ablesen, wie das Geschehen um sie herum zu begreifen war. Und da hämmerte wieder das Boogie-Woogie-Piano von irgendwoher auf sie ein. Serafine stand zitternd auf. Sah sich um. Hielt sich die Ohren zu. Raus … raus aus der Galerie! Beim Hinauslaufen hörte sie, wie der Braungebrannte auf 60.000 Euro erhöhte … und Bibi! Auf einmal sah sie Bibis Gesicht im Glas der Eingangstür gespiegelt … Bibi lächelte … es war ein böses Lächeln … Serafine spürte, wie etwas von diesem Lächeln auf sie überschwappte … das ihr unheimlich war … dem sie sich mit Wonne hingab …

Am nächsten Morgen – Serafine war mit stechenden Kopfschmerzen aufgewacht – las sie in einer Sonderausgabe der Himmelsroder Rundschau, die man ihr vor die Haustür gelegt hatte, folgende Meldung: Die Ausstellung Ichbetrachtung der bekannten Künstlerin Bibi de Boo, die am gestrigen Abend mit der Vernissage spektakulär eröffnet worden ist, musste noch am gleichen Abend für beendet erklärt werden, denn sämtliche Werke der Ausstellung sind unter bisher nicht ganz entschlüsselten Umständen zertrümmert worden. Seitens der Polizeibehörde verlautete, dass von einem als Indianerhäuptling beschriebenen Besucher jener «kreative Vandalismus» ausgegangen sein soll (Zitat: Bibi de Boo, Anmerkung der Redaktion), der das Vernichtungswerk in Gang setzte. Jener Besucher, so heißt es, der für eines der Werke De Boos als Miteigentümer Rechte reklamiert hatte, brachte den Verkauf seines Anteils ins Spiel, um am Ende einer tumultartigen Bieterschlacht eine Millionensumme dafür zu fordern. Er soll schließlich, weil sich offenbar kein Käufer fand, in einem Moment allgemeiner Orientierungslosigkeit das von ihm angesprochene Kunstwerk wortlos und brachial in Trümmer gelegt haben. «Dieser Umstand wird als Initialzündung einer allgemeinen Vernichtungshysterie seitens der Besucherschaft zu werten sein», so wörtlich im Redaktionsgespräch der Verhaltensforscher Hanno Oll, selbst Besucher der Ausstellung. Wie Oll mutmaßt, dürfte das letztlich auch zur akribisch durchgeführten Zerstörung sämtlicher Ausstellungsstücke geführt haben. Wobei Oll den Ruf «Kleinholz!» wiederholt gehört haben will. Nachdem gegen 23 Uhr ein Sonderkommando des städtischen Sperrmülldienstes in der Galerie angerückt war, um mit der Entsorgung der Ausstellungsüberreste zu beginnen, entlud sich die allgemeine Stimmung unter den Besuchern in einer plötzlichen und schnell ausufernden Panik. Der Grund, so der Leiter der örtlichen Polizeibehörde, Andy Waluschke: «Die Leute vom Sperrmüll wollen einsammeln, aber die Künstlerin hält sie auf und erklärt, der herumliegende Müll sei von jetzt an Teil der Zeitgeschichte und müsse darum Stück für Stück als eigenständige Schöpfung angesehen und in Verwahrung genommen werden.» Der bekannte Rechtsanwalt Täumeling gab später folgendes Statement ab: «Es ist, so denke ich, als ein Akt räuberischer Vorteilsnahme zu werten, dass ein Großteil der Kunsttrümmer von den Besuchern aus der Galerie verschleppt wurde.» – «Na, und der Sperrmülldienst», schloss Kommissar Waluschke seinen Bericht, «musste also unverrichteter Dinge abrücken.» Nach Recherche der Frühredaktion unserer Zeitung sollen bereits in der Nacht von Freitag auf Samstag die ersten Trümmerteile im Internet als Kunstobjekte zu Rekordpreisen angeboten und auch verkauft worden sein.
   Serafine ließ die Zeitung sinken. Sie lächelte. Es war Bibis Lächeln. Serafine wusste es, ohne in den Garderobenspiegel blicken zu müssen.

(aus – Eine Frau zum Hingucken
Erzählung von Peter Welk)