Himmelfahrt


 – Lieber Gott, ich sah dich gestern kommen

Gradewegs zur Kneipentür herein.

Anfangs glaubte ich, es könnt‘ ein Irrtum sein,
Denn ich sah dich zwar, doch sah ich dich verschwommen,
Und dein Gang, entschuldige, war mehr ein Wanken,
Und das ließ mich rundherum im Glauben schwanken.
 
Doch dann hast du zu den Himmelsachsen
Dich ins Lot gebracht und aufrecht kamst du her,
Nichts von Wanken oder Schwanken sah ich mehr,
Vielmehr schien‘s, als sollten dir jetzt Flügel wachsen,
Und wie dir – mir auch! So dass wir Schleifen flogen
Kneipenauswärts und vereint gen Himmel zogen.


Möglich, dass wir bis zur Himmelspforte kamen,
Bloß, ich weiß es nicht und wüsst es gerne, amen.


  



Topsy vertraut sich ihrem 
Emanzipationscoach an


 – Ach, wissen Sie, ich liebe Literaten,
Ich folge ihnen gern auf Schritt und Tritt,
Dem einen hab ich mal ein Steak gebraten
Und nahm ihn in den Lesegarten mit.

Mein Literat hat seine eigne Glätte,
Man bleibt als Frau nicht lange an ihm dran.
Jedoch, wenn ich ihn überhaupt nicht hätte,
Was fing ich dann im Lesegarten an?

Man hat Gefühl. Man ist ja nicht von Pappe.
Man gibt sich hin. Und wird auch mal geneppt.
Ich seh das Leben insgesamt als Schlappe –
Gelegentlich mit Kerlen aufgepeppt.

  



Aufschwung


 – Fliederstein beschließt an einem kalten

Winterabend, sich an den Gestalten,

Welche Mittelmaße fliehen,

Herz- und seelewärmend hochzuziehen.


Cäsar, beispielsweise, hat die Welt,

Nach dem Brockhaus, auf den Kopf gestellt,

Fliederstein erlebt es lesend neu,

Gloriesaugend und bewundrungsscheu.


Auch Napoleon sprengt als Lesegröße

Fliedersteins gehäufte Bücherstöße,

Die ihn bald schon eng gebaut umsäumen,

Angefüllt mit Held- und Weltenträumen.


Als aus Abend – Winternacht geworden,

Wärmt sich Fliederstein an Hunnenhorden,

Baut gedanklich eine Zeitentreppe,

Rückwärts führend via Hunnensteppe,


Und dort lässt er sich, umringt von allen

Hunnen, auf den Steppenboden fallen,

Ganz und gar erschöpft vom  Weltenwenden,

Und beschließt als Hunnengott zu enden.



Kleine Hundeballade


– Fliederstein hat einen Katalog gefunden,

Unter einem Berberitzenstrauch,

Ein Versandhaus wirbt darin mit Hunden,

Mit gesunden und mit edlen auch.


Unsre Hunde, heißt es dort, beglücken,

Sie, verehrte Kundschaft, garantiert.

«Lass mich bald schon deine Hütte schmücken!»

Seufzt ein Kataloghund, fesch frisiert


Und mit himmelwärts gedrehten Blicken

Seite siebzehn. – Fliederstein verstehts

Seinerseits ein Seufzerbild zu schicken

An den Hund: «Na, Eberhard, wie gehts?»


Eberhard! Der Hund hat einen Namen!

Fliederstein entnahm ihn nicht dem Katalog,

Den verschenkt er an zwei Brillendamen,

Die sein jähes Lächeln näherzog,


Dann – es kam, wie manchmal Träume kommen –

Haben Eberhard und Fliederstein

Beiderseitig Witterung genommen,

Fanden im Versandhaus zueinander,

Liebe wars, vom Schicksal wie bestellt,

Sie gerieten außer Rand und Bander,

Fliederstein hat auch zuerst gebellt,

Eberhard, der einst Cherie geheißen,

Bellte wie ein wildes Sofatier,

Fliederstein ließ sich ins Steißbein beißen,

Und begann am Hundeohr zu reißen

Und den Eberhard herumzuschmeißen,

Der dem Fliederstein ans Brustbein sprang

Und denselben so zu Boden zwang,


Wer herumstand um die beiden Kampfnaturen,

Sprach noch Tage von den Kampfesspuren.


Auf dem Heimweg ging der Eberhard geleint

Mit dem Fliederstein in Zärtlichkeit vereint.


 


Zielen Sie!


 – Erst zielen Sie betrachtend mal auf Mitte

Und blenden ganz die Außenlandschaft weg –

Was sehn Sie? – Konzetrieren Sie sich, bitte!

Sie sehen, na? Ein hingewölbtes Eck,


Wie es der Künstler gern in Marmor haut.

Wie es in Parks den Mittagsschlendrer schreckt.

Wie man es gern zu Brunnenschmuck verbaut.

Wie es im Kenner das Erschauern weckt.


Jetzt zielen Sie betrachtend mal auf mich,

Auf mich als Ganzes, wenn Sies noch vermögen:

Sie sehen, na? Sie sähen mehr, wenn sich

Die Bilder, die Sie sehn, zusammenzögen


Zu einem Wunschtraumbilderbuchgeblätter,

Das wär dann ich. Ganz Wölbung. Nicht nur Eck.

Sie sehn das nicht? Dann haben Sie halt Bretter …

Am besten blenden Sie die ganze Landschaft weg.



Frühaufsteher? – Nein, Langschläfer.
 
( short story )
 
 – War es Zufall, dass an einem Dienstag im August eine Frau und ein Mann, die nichts von einander wussten, im gleichen Augenblick beschlossen, die Nachmittagsstunden im Schwimmbad von Springfelde zu verbringen, um später dann, ohne Aufsehen, aus dem Leben zu scheiden?
   Carolin Honig saß im schwarzen Morgenmantel vor ihrem Mahagoni-Sekretär. Ein Blick auf die Wanduhr sagte ihr: Du hast noch Zeit. Leise sagte sie zu sich selbst: «Das also war mein Leben?» Und sie suchte nach einem Anfang für ihren Abschiedsbrief. Wer würde ihn lesen? Wer schon? Sie warf einen Blick seitwärts zum geöffneten Fenster hinaus, beobachtete eine Amsel, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf dem Holzrahmen einer Plakatwand hockte und zu ihr herüberäugte – den zuckenden Schwanz hochgestellt, als wollte sie signalisieren: He, du da am Feine-Leute-Möbel, mach keine Dummheiten! 
   Warmer Morgenwind wehte Carolin ins Gesicht. Sie kramte einen Bogen Papier aus dem Sekretär. Seufzte. Schaute wieder zur Plakatwand hinüber: Die Amsel war weggeflogen. Stattdessen streifte Carolins Blick jetzt eine pausbackige Schöne, die auf einem Plakat in verschnörkelter Sprechblasenschrift den leckeren Landkäse für den lebensfrohen Stadtesser anpries.
Gegen alle Gewohnheit war Carolin Honig an diesem Freitag um sechs Uhr morgens aus dem Schlaf geschreckt. Das Gebrumm einer Mücke hatte sie auffahren lassen. Und der Blick zum Wecker erschreckte sie fast zu Tode: sechs Uhr morgens! Was bedeutete das? War sie noch sie selbst? War das jetzt eine Persönlichkeitsspaltung? Mit einem lautlosen Schrei sah sie sich ins Kopfkissen zurücksinken und konnte sich nur mühsam aufrecht halten. Sechs Uhr morgens! Was für ein Albtraum! Sie gehörte zu den Langschläferinnen! Durfte sich zu jener gesegneten Spezies der Langschläferinnen zählen, die kein Kanonendonner aus den Verschlingungen ihrer buntgemalten Vormittagsträumereien holte. So war es immer gewesen. Und gerade darum hatte er sich für sie entschieden. «Ist Erstaunlicheres vorstellbar», hatte er ihr beim ersten gemeinsamen Aufwachen ins Ohr geflüstert, «als dass einem Frühaufsteher, wie mir, eine leidenschaftliche Langschläferin vom Schicksal zugeteilt wird?» Seine Worte! Etwas pathetisch, aber wohltuend. «Träum du weiter, ich geh joggen!» So war es dann auf ewig verabredet. So hatten sie es auch immer gehalten. Seit beinahe drei Jahren. Und es waren in diesen drei Jahren immer die schönsten fünf Minuten des Tages gewesen, wenn er vor dem Joggen noch einen Augenblick lang neben ihr auf der Bettkante saß, ihr mit den Fingern über die geschlossenen Augen tupfte, einen Abschiedskuss zu ihr hinunterhauchte und auf Zehenspitzen das Schlafzimmer verließ. Nie hatte sie einen Verdacht geschöpft. Sie war Langschläferin, er Frühaufsteher. Vom Schicksal verleimt, passten sie perfekt zueinander. Und dann das! Der Zettel! Gestern!
   Wieder sah Carolin zum Fenster hinaus. Der Himmel in Springfelde färbte sich allmählich mittagsblau. Ein Motorrad knatterte um die Straßenecke. Die Nachbarschaft hatte den Rasenmäher angeworfen. Carolin lächelte gequält. Das war sie: ihre überschaubare Welt. Von der sie sich nun verabschieden wollte. Wollte sie es denn? Oder war es nur eine Laune, die vorüberflog? Sie drehte den Kopf – das Küchenradio sendete scheppernd eine Warnmeldung zu ihr herüber: Im Schwimmbad von Springfelde sei der Zehnmeterturm wegen Baufälligkeit für den Publikumsverkehr bis auf Weiteres gesperrt, und man werde unverzüglich das Wasser im Becken ablassen. 
   Gestern hatte sie einen Zettel im Briefkasten gefunden. Einen Zettel mit seiner Handschrift. Er teilte ihr mit, er habe seit einiger Zeit eine Joggingpartnerin. Deren Frühaufstehercharme sei er auf Anhieb erlegen. Er könne nichts dafür. Schicksal! Sie müsse sich fortan also ohne ihn durchs Leben träumen. Ende. Kein Wort weiter. – Den Zettel hatte Carolin sofort zerrissen. Hatte die Schnipsel dann sofort wieder aus dem Müll gefischt. Hatte sie zusammengesetzt und mit Spucke auf die Tageszeitung geklebt, die sie, von ihm zurechtgelegt, auf dem Sekretär gefunden hatte. Dann hatte sie versucht, ihn anzurufen. Die Nummer war nicht mehr vergeben.
   «Ich bin eine Frau von 47 Jahren», schrieb Carolin. War das ein Anfang? «Ich bin aus gutem Hause (mein Vater war Steuerberater und hat mir ein kleines Vermögen hinterlassen), ich habe ein Psychologiestudium abgebrochen, ich war noch nicht verheiratet, man sagt mir einen Hang zur Überspanntheit nach, aber, na ja, trifft das denn zu? Ich denke, alles in allem ist an mir so ziemlich alles ganz normal. Ich frage mich natürlich: Wer wird mich vermissen? Ist da überhaupt jemand? Wo wird man mich finden? Warum hat er mir das angetan? Weil ich auf einer Heirat mit Ehevertrag bestanden habe? Außer seiner hinreißenden Persönlichkeit hat er ja kaum etwas, das Geld habe ich. Aber es war doch Liebe, oder? Ich habe an seine Liebe geglaubt. Sie hat meine Schritte beschleunigt. Sie hat mir Gerüche zugespielt, die ich nicht kannte. Sie hat meine ausufernden Träume handfester werden lassen. Und auf einmal soll es das alles nicht mehr geben? Mein Leben soll keinen Sinn mehr haben? Auf einmal?» Carolin japste nervös nach Luft. Ein Schuss Selbstmitleid hatte Tränen in ihr hochkommen lassen. Und in Gedanken rauschten die vergangenen drei Jahre an ihr vorüber, in denen sie gelernt hatte, glücklich zu sein. Vor der Zeit mit ihm waren immer nur Männer in verrauchten Coctailbars auf sie zugesteuert, bei denen eine Nacht zu holen war, aber kein Glück. Und was würde künftig auf sie zusteuern? 

Paul Ufer saß vor seinem Laptop. Seit dem Aufwachen brütete er über einem Abschiedsbrief. Einen Anfang hatte er gefunden. «Es hat nicht gereicht.» zeigte der Laptop an. «Es hat nicht gereicht», sagte Paul leise zu sich selbst. Mit 51 Jahren würde er sich heute aus dem Leben abmelden als ein Talent, das mit 15 erste Erfolge als Geburtstagsdichter in der Lokalpresse feierte, das sich, zügellos Einfälle ausdampfend, als Mittzwanziger an einem Roman versuchte, den es dann nie gegeben hat, ein Talent, das in der Gewissheit älter wurde: Du gehörst zu den Großen, Paul, Literaturnobelpreis, warum denn auch nicht, dein Verleger meldet die erste Millionenauflage, in der Wikipedia wird man dich später einmal nur mit steil abwärtsfahrendem Scrollbalken ganz erfassen können, du wirst … du wirst, so viel Überheblichkeit sei erlaubt … dichtend wirst du der Unsterblichkeit entgegeneilen. «Oh, mein Gott!» Ein Stoßseufzer. Paul Ufer lachte lautlos. Sein ganzes Leben hatte er mit Illusionen vertrottelt! Hatte nicht erkennen können, wie bescheiden er mit Talenten ausgestattet war. Hatte den Größenwahn in sich selbst zwar immer wahrgenommen, ihn aber als angemessen immer auch geduldet. Zur Schauspielschule war er gegangen, hatte sich Kabarettprogramme geschrieben, hatte Kneipentheater gespielt, in der Rilke-Nachfolge Naturlyrik im Selbstverlag veröffentlicht. Er, der Hansdampf im Literaturbetrieb, wie er sich selbst in einem frühen Memoiren-Versuch charakterisiert hatte. Und auf einmal – an einem kalten Montag im April – hieß es dann: Ende der Vorstellung! Die große Leere tat sich plötzlich vor ihm auf. Schreibblockade! Wie bei Hemingway, redete er sich ein. Schreibblockade, aber das gibt sich! Hat sich bei Hemingway auch gegeben, oder? … Und am Abend dieses kalten Apriltages dann, nach zwei Flaschen Rotwein und allmählichem Bewusstseinsverlust, sah Paul Ufer in einem kurzen Aufscheinen letzter Gedankenklarheit nur noch diese eine Lösung, die schon Hemingway für sich gesehen hatte, und die auch in der Causa Paul Ufer nun als unabwendbar anzusehen war. Immerhin: Er würde sich nicht erschießen, so viel Blut musste nicht sein, der Blaue Eisenhut war ja auch eine Möglichkeit.
   Der Kaffeeautomat hatte sich mit verröchelndem Zischen gerade selbst abgestellt. Ein letzter Schluck Kaffee? Paul Ufer schüttelte den Kopf. Ihm fiel jener chinesische Gangsterboss ein, der vor seiner Hinrichtung noch eine Zigarette rauchen wollte. Keinen Kaffee mehr! Eigentlich hätte er jetzt zum Dienst aufbrechen sollen. Beim Stadtfernsehen hatte er einen Job angenommen: als Übersetzer der laufenden Nachrichten in die Gebärdensprache. Hatte sich in das Bewegungsspiel der Taubstummen mühelos einarbeiten können, denn – wie lange war das her? – der Pantomimeunterricht auf der Schauspielschule erwies sich da als brauchbare Vorbereitung. Aber dieser Fernseh-Job … bei seinen Talenten, verdammtnochmal! Was für ein Abstieg! «Es hat nicht gereicht!» Paul Ufer sah sich mit 51 Jahren ganz unsentimental als eine grandios gescheiterte Existenz an. Eine Null, für die sich kein Mensch mehr interessierte. An die sich niemand erinnern würde. Er lachte wieder. Konnte sich nicht einmal hassen für all seine Blindheit. Er war – ja! – er war sich auf einmal selbst herzlich gleichgültig geworden. «Also dann, Paul, den Abschiedsbrief kannst du dir schenken, kein Mensch wird ihn lesen wollen. Mach dir einen letzten schönen Spätsommernachmittag, geh ins Schwimmbad – und dann Hemingway!» 

Das Schwimmbad von Springfelde war überfüllt. Paul Ufer hockte auf seiner Decke und kniff die Augen zusammen. Durch die Augenschlitze betrachtet wurden all die dicken Leiber rundum zu lauter dicken Würmern. Ein Ball flog auf ihn zu, ein Kind kreischte, eine Mutter lamentierte, Paul erhob sich und kickte den Ball in die Menge, unabsichtlich, eine Mutter fauchte ihn an, ein Kind weinte herzzerreißend, ein Bademeister machte sich auf seinem Hochsitz lang, eine Frau fragte: «Wäre hier noch Platz?»
Paul Ufer sah sich irritiert um. Dann setzte er sich wieder und murmelte: «Wäre!» – «Was meinen Sie damit? Kann ich meine Decke hier aufschlagen, oder … hier ist doch noch Platz, oder?» – «Schlagen Sie auf, Verehrteste, was Sie wollen, aber kommen Sie mir nicht zu nahe!» – «Komm ich nicht, Verehrtester, keine Sorge, Ihre Haut ist mir nämlich zu käsig!» Carolin Honig schlug ihre Decke auf, setzte sich und dachte: Blöder Kerl, aber was schert mich das noch. 

Der Nachmittag zog über die Köpfe der Leute hinweg wie ein lärmender Film. So empfand es Carolin. Sie lag auf ihrer Decke und starrte in den Himmel. 
   Paul hätte der Frau, die sich da neben ihn hingepflanzt hatte, am liebsten einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen. Immer wieder stieg dieser Wunsch in ihm auf. Er war wütend. Auf sich selbst. Auf die Frau. Auf das Leben. 
   Carolin winkte einen Eisverkäufer heran. «Himbeer und Zitrone, bitte! Sie auch?» In einem Anflug von Galgenhumor bot sie es dem blöden Kerl auf der Decke neben ihr an. Der rollte sich wortlos auf den Bauch.
   Von irgendwoher kam Musik herangeträllert. Banjo, Klarinette und Waschbrett. Eine Drei-Mann-Combo. Das Banjo sang: «Das Schwimmbad ist mein Eigenheim, ich bin ein Wassertier, und wirfst du deine Angel aus, dann beiß ich an bei dir.» Die Klarinette kassierte dann die Leute ab. Carolin warf einen Zehn-Euro-Schein in den hingehaltenen  Hut. Und bekam dankend eine Zugabe: «Das Leben ist voll Sonnenschein, und du stehst mittendrin, und wär ich nicht ein armes Schwein, und wär ich mal mit dir allein, ich nähm dich her und hin.» Carolin wollte das nicht hören, denn dem blöden Kerl neben ihr hatte es offenbar gefallen. Der lag auf dem Bauch und gluckste. Mit einem Fingerwisch scheuchte Carolin die Combo weiter. 
   Ein Hund schnüffelte sich zwischen den Liegedecken hindurch. – «Herrchen ist hier, Aurora!»
   Ein Kind hielt eine Schnecke hoch und fürchtete sich vor ihr.
   Eine Sirene plärrte plötzlich los. 
   Leute kreischten. 
   Leute liefen zusammen und rannten zum Zehnmeter-Sprungturm. 
   Dort oben stand eine junge Frau. 
   Bis zur Spitze hatte sie sich vorgewagt. Sie würde springen, keine Frage. 
   Den Leuten stockte der Atem. Wie war sie da hinaufgelangt? Einige hielten ihre Handys hoch und fieberten dem Sprung entgegen. 
   Der Bademeister meldete sich über Megaphon. Forderte die junge Frau auf, vom Sprungturm herunterzukommen. Es sei kein Wasser im Becken! Sie schwebe in Lebensgefahr! Sie reagierte nicht. Stand am freien Ende und sah geradeaus – und «Springt sie jetzt, oder was?» rief ein dünner Mensch. 
   Plötzlich dreht sich die junge Frau den Leuten zu. Guckt nach unten. Guckt lange. Fuchtelt dann mit den Händen. Kurze schnelle Bewegungen. Droht abzustürzen. Der Bademeister meldet sich wieder über Megaphon, versucht zu beruhigen. Die junge Frau antwortet mit Händen und Armen. 
   Paul ist aufgesprungen. Drängt sich durch die Leute. Wird aufgehalten. Ein Dicker keift ihn an: «Die guten Plätze sind belegt, Alter!» Paul tritt ihm auf den Fuß. Schlägt sich weiter durch die Menge. 
   Ein Familienvater stellt sich ihm mit Kind und Badekappenmutti in den Weg. Paul brüllt: «Sie ist taubstumm, sieht das denn niemand!» Man macht ihm Platz. 
   Carolin ist Paul hinterhergelaufen. Steht jetzt keuchend neben ihm. Fragt: «Taubstumm? Woher wissen Sie das?»
«Ich verstehe, was sie sagt!»
   «Was sagt sie?»
   «Sehn Sie hoch! Sie sagt: ‹Ich habe Angst vor dem Leben!›» 
Paul antwortet der jungen Frau auf dem Sprungturm mit schnellen Handzeichen. 
   «Was haben Sie ihr gesagt?» will Carolin wissen.
   »Na, was schon! Das Leben ist schön, hab ich behauptet!»
   «Und?»
   «Sie glaubt mir nicht!»
   «Aber es ist doch wunderschön!»
   «Haben Sie eine Ahnung!»
   Ein ausrangierter Feuerwehrwagen, den man aus einem nahegelegenen Schuppen herausgerollt hat, bahnte sich den Weg über die überfüllte Schwimmbadwiese. Die Leute gingen widerwillig auseinander. Der Bademeister drohte über Megaphon mit Anzeige, falls die Behinderung nicht aufhöre. 
Die Feuerwehrleiter wurde ausgefahren. Auf dem Weg zum Beckenrand. Dann musste der Wagen anhalten. In einigen Metern Entfernung. Es war unmöglich, die Leiter bis zu der Frau hochzudrehen: Um das leergepumpte Becken herum stapelten sich Liegestühle, Planen und Bretter. Ein Bauzaun war wie ein Schutzwall um das Gelände gezogen. Mit der Leiter kam man nicht nahe genug heran.
   «Sagen Sie ihr», bat Carolin, «sagen Sie ihr, das Leben habe für sie doch gerade erst angefangen, es sei voller Überraschungen!»
   «Hab ich, Verehrteste. Aber sie glaubt mir einfach nicht!» entgegnete Paul. «Sie bezweifelt, dass ich etwas von ihrem Leben verstehen könnte!»
   «Warum klettert denn, verfluchtnochmal, niemand da hinauf!» wurde gerufen. «Ich bin der Chefredakteur der Springfeldpost! Man muss doch etwas tun!» 
   Paul wandte sich der jungen Frau zu. Sah zu ihr hoch.
   «Was macht sie denn jetzt?» Der Chefredakteur hatte sich auf Zehenspitzen hochgeschraubt, als könne er so genauer erkennen, was sich da oben abspielte. 
   Die junge Frau hielt sich die Augen zu. Schwankte auf dem schmalen Untergrund. Versuchte einen Schritt nach vorn. Ließ die Hände wieder fallen.
   Die Menge unter ihr verstummte. Man starrte auf Paul. 
Paul brüllte die Leute an: «Hat jemand unter euch eine Idee? Was ich ihr sagen soll? Wie man sie aufhalten kann? Sie wird springen!»
   Ein Sonnenbebrillter meinte: «Ihr Schicksal liegt in Gottes Hand, würde ich sagen.»
   «Quatsch!» widersprach Paul. «Von uns will sie etwas hören!»
Ein Aufschrei: Die junge Frau schwankte auf einmal heftig und drohte abzustürzen.
   Carolin sagte leise: «Was sie da vor hat, das ist doch keine Lösung! Sagen Sie ihr das, bitte! Es ist keine Lösung!»
Paul blickte nach oben. Versuchte ein Gespräch mit der Frau anzufangen. Redete behutsam auf sie ein. Mit den Händen. Mit den Armen. Sogar der Kopf verwickelte sich in das Gespräch. 
Die Leute waren zu kleinen Gruppen zusammengerückt. Starrten auf Paul. Ein älterer Herr informierte die Umstehenden: «Den kennt man doch, der ist von den Nachrichten. Fernsehen!» 
Und dann hatte Paul eine Idee. Eine ganz und gar blödsinnige Idee, wie er fand, aber ihm fiel nichts Besseres ein. Und als er nach endlosen Minuten – die Leute hatten ihn alle im Blick, hatten sich an ihm fragend festgeguckt, versuchten zu enträtseln, was er der jungen Frau zu sagen hatte – als er irgendwann erschöpft die Arme sinken ließ, weiter unverwandt nach oben schaute … da drehte sich die junge Frau langsam und unsicher, beinahe stolpernd auf dem Sprungturm um, ging mit zögernden Schritten zur Treppe zurück … und war hinter dem Bretterverschlag verschwunden, der um den Treppenaufgang gezogen war. 
   Die Leute redeten laut und aufgeregt, wie nach einem Fußballspiel. Einige klatschten. Der Chefredakteur der Springfeldpost war fluchend in der Menge untergetaucht, weil er vergessen hatte, den Akku in seinem Handy aufzuladen. «Kein Bild!», hörte man ihn jammern, «eine Katastrophe!»
   Paul lief der Schweiß übers Gesicht. Er atmete heftig. Die Beine zitterten ihm. Er ließ sich auf seine Decke fallen. 
   Nach einer Weile setzte sich Carolin neben ihn. Sie wartete einen Augenblick. Dann fragte sie: «Was haben Sie zu ihr gesagt?»
   «Ich? Gar nichts. Rilke hat!»
   «Wer ist Rilke?»
   «Einer, der wunderbare Gedichte schreibt. Fand die junge Frau da oben übrigens auch.»
   «Sie haben …?»
   «Ich habe ihr ein Gedicht von ihm hochgeschickt, weil mir selbst nichts Glaubhaftes mehr einfiel. Ein Gedicht, das vom Leben erzählt, vom Jungsein und vom Tod, vom Schwimmbad, von der letzten Einsamkeit und dem langen Schweigen am Ende aller Wünsche.»
   «Ein … Gedicht? Das glauben Sie doch selber nicht! Was für ein Gedicht?»
   «Ein großes. Eins von der Sorte: erst mal unverständlich, aber schön.»
   «Und sie hat es trotzdem verstanden … oder … was?»
   «Keine Ahnung.» 
   «Sie machen sich lustig über mich!»
   «Die großen Gedichte muss man nicht verstehen, Verehrteste. Es sind magische Wörter, aus denen sie zusammengesetzt sind. Und diese Magie – die kann so eine junge Frau da oben auf dem Sprungturm schon mal erschrecken und, Sie haben es ja gesehen, sogar zur Umkehr bewegen!»
   «Kann ich es hören?»
   «Sie mögen Gedichte?»
   «Ich weiß es nicht.»
   Paul sprach leise und ruhig:

«Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge 
Und keine Heimat haben in der Zeit. 
Und das sind Wünsche: leise Dialoge 
Täglicher Stunden mit der Ewigkeit. 

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern 
Die einsamste von allen Stunden steigt, 
Die, anders lächelnd als die andern Schwestern, 
Dem Ewigen entgegenschweigt.» 

Carolin – sie wischte sich über die Augen – lächelte den blöden Kerl, den sie da neben sich auf seiner Decke hocken hatte, lange an. Lange. Dann erkundigte sie sich: «Sind Sie Frühaufsteher?»
   «Nein, Langschläfer, warum fragen Sie?»


 

Ich-Betrachtung

( short story )

– Ein frühlingswarmer Freitagabend kündigt sich an. Motten flattern gegen Schaufensterscheiben, Liebespaare bummeln, Autofahrer hupen. Der Bürgermeister von Himmelsrode hat sich mit Thekla Schmidt-Töff, der Kulturamtsleiterin der Stadt, in ein Hinterzimmer zurückgezogen. Dort feilen sie gemeinsam an der Rede zur Eröffnung der Ausstellung Ichbetrachtung.

Mit Anbruch der Dämmerung macht sich Serafine Moll auf den Weg zur städtischen Kunstgalerie.

Die Himmelsroder Rundschau hatte auf der Titelseite ihrer Freitagsausgabe einen Bericht über die Künstlerin Bibi de Boo veröffentlicht. Darin war die Rede von De Boos überregionaler Bedeutung, man sah sie in der Nähe großer Namen der Moderne, freilich verwies man auch auf irritierende Eigenwilligkeiten: So habe De Boo es der Presse verwehrt, vor Eröffnung der aktuellen Ausstellung einen Blick auf ihre Arbeiten zu werfen. Man könne den Lesern also keinen Hinweis darauf geben, was da zu erwarten sei. So viel aber doch: Wie bei einer Vernissage üblich, rechne man auch heute mit einer geradezu exzentrisch gekleideten Besucherschaft, denn das sei Himmelsroder Tradition und werde mittlerweile sogar von Berlin kopiert.
   All das hatte Serafine bei ihrer Morgenlektüre im Büro begierig aufgenommen, ja, es versetzte sie in eine geradezu rauschhafte Aufregung. Und sie fasste einen Entschluss: Am Vorbild lernen! – das sollte von nun an ihr Leitspruch sein. So schrieb sie es nach Feierabend dann auch mit dem neu gekauften Lippenstift auf den Garderobenspiegel im Flur: Am Vorbild lernen, wo immer sich Gelegenheit bietet! Sie würde zu Bibis Ausstellung gehen! Würde einen Blick werfen in die schillernde Welt der schönen Künste, der sie sich bisher verweigert hatte! Kunst – das war für Serafine etwas Fremdes, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. Etwas für Leute, die bemerkt wurden. Sie, die namenlose Buchhalterin, sah allenfalls in ihrem Säulenkaktus einen Hauch von schillernder Schönheit aufscheinen, wenn er sie in der Morgensonne anblitzte. Aber Kunst? Über ihrem Wohnzimmersofa hing ein Bild – Türkisvase mit Mohn – von einem Franzosen, Odilon Redon, eine Wiesenblumenstimmung, die Serafine in einem Anflug von Wehmut bei einem Kunstblattversand gekauft hatte, weil der Name des Malers Erinnerungen weckte an ihren Jugendfreund Odin, Kosename Odinle, der nach einer kurzen Affäre mit ihr vom Nesselfieber befallen wurde und zur Regeneration der Haut bei Freya, einer Apothekerin, ein neues Glück zu suchen begann. Die Türkisvase füllte seither die Tapetenleere über dem Sofa aus, und so war sie ihrer Bestimmung zugeführt. An Kunst hatte Serafine dabei nicht gedacht.

Von der städtischen Galerie herüber kamen Serafine die rollenden Bässe eines Boogie-Woogie-Pianos entgegengewummert. Sie hielt sich für einen Moment die Ohren zu. Entschied dann aber, das Gewummer als Kunst einzuordnen und nahm die Hände herunter. Irgendwann verlor sich der Lärm in den Geräuschen des Abends.
   Ein paar Schritte vom Galerieeingang entfernt blieb Serafine hinter einer Plakatsäule stehen: Sie wollte nicht gesehen werden. Nicht auffallen. Wollte warten.
   Die ersten Besucher zeigten sich.
   «Ob die Künstlerin schon da ist?» fragte im Vorbeigehen ein Kahlkopf eine Blauhaarige.
   Einige Besucher kamen gekleidet wie für einen Kostümball, so empfand es Serafine. Ein langer Dünner trabte an ihr vorbei in einer goldschwarz karierten Schottenkluft. Ein Damenduo – Serafine guckte zweimal hin – präsentierte sich nackt in noppenbespickte Klarsichtfolie eingeschlagen. Und Serafine fragte sich, ob sie in ihrem schlichten Trenchcoat unter all dem Extravaganten womöglich erst recht auffallen könnte.
   Endlich dann, im chromfunkelnden Oldtimer mit offenem Verdeck, fand sich auch Bibi de Boo ein. In Begleitung eines Braungebrannten. Der, so schien es, nicht aussteigen wollte und von Bibi am Ohrläppchen vom Beifahrersitz gezogen wurde.
Serafine war überwältigt von Bibis Auftritt: Sie trug ein krokodilgrün geschupptes Lederkleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, und sie ging barfuß. Der Braungebrannte – wie war das einzuschätzen? – der kam als eine Art Kino-Indianer: Feder am Hinterkopf, wehendes Hemd, rotlederne Schnürsandalen bis zu den Knien hoch. Serafine ertappte sich bei einem Grinsen.
   Der Abendwind fächelte einen kurzen Wortwechsel zu ihr herüber.
   «Zügig, Winnetou! Wir sollten die Leute nicht warten lassen!»
   «Verdammtnochmal, ich will nicht!»
   «Was willst du nicht?»
   «Wie seh ich denn aus!»
   «Zum Anknabbern!»
   «Du machst mich zum Clown, warum?»
   «Winnetou, mein Häuptling, du tust, was ich dir sage, du möchtest doch, dass ich dich am Leben lasse, oder? Also wirst du gehorchen!»
   «Was … was machen wir überhaupt da drin? Irgendwas mit Kunst?»
   «Ich mache! Du spielst Kundschaft!»
   «Bodyguard kann ich besser!»
   «Ist vergeben! Los, komm!»
   Der Braungebrannte spuckte einen Kaugummi aus. Dann schloss sich hinter ihnen die Eingangstür zur Galerie.
   Wenige Augenblicke später ließ sich Serafine mit dem Strom der Leute in den Ausstellungsraum treiben.
   Hinter der Eingangstür hatte sich der Braungebrannte postiert. Guckte einer vorbeidrängenden Tattooschönheit auf die einladend angehobenen Brüste.
   Der Ausstellungsraum war in flirrendes Licht getaucht. Man begrüßte sich. Schlenderte. Griff zu den Sektkelchen, die von lautlos schwebenden Wesen gereicht wurden. Man trug Kennerschaft auf der Stirn.
   Rundum waren Staffeleien aufgestellt. Mit pinkfarbenen Tüchern zugehängte Staffeleien. Serafine dachte an die Zeitungsmeldung: Bibi liebte offenbar die Geheimnistuerei, wie aufregend! Hier und da wurde versucht, einen Blick hinter eines der Tücher zu werfen, doch sofort stoppte dann eine automatisch abspulende Stimme das Vorhaben: «Finger weg!» mahnte die Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien. Das löste bei Ertappten und Umstehenden nervöse Heiterkeit aus.
   Jemand klopfte an ein Glas.
   Serafine suchte in der Menge Bibi – wo war sie?
   «Ruhe!» wurde gerufen.
   «Ich als Bürgermeister unserer schönen Stadt», begann ein schwitzender Dicker eine Rede, «ich begrüße Sie herzlich, und ich darf annehmen, meine Damen und Herren, liebe Kunstbegeisterte – wie ich sehe, haben Sie sich, ihrer Kreativität folgend, einfallsreich in Schale geworfen – ich darf annehmen, Sie hoffen, wie ich, auf einen Abend der Einmaligkeit!» Der Bürgermeister tupfte sich die Stirn ab und senkte die Stimme: «Vielleicht auch auf einen Abend des Erschreckens, denn bei Frau de Boo weiß man ja nie!» Gelächter. Beifall. «Wir alle ahnen es doch, nicht wahr, meine Damen und Herren, was da auf uns zukommen wird. Nämlich: das Unerwartete. Vielleicht sogar: das Unerklärliche. Wenn ich mich im Saal umschaue, sehe ich allerdings noch nichts davon. Die Kunst gibt sich noch verhüllt. Frau Schmidt-Töff – ah, da hinten steht sie und winkt! – unsere Kulturamtsleiterin! Sie hat mich vor ein paar Minuten noch daran erinnert, und ich gebe ihre Worte jetzt gerne weiter an Sie, meine Damen und Herren: Das Geheimnis der Kunst ist das Geheimnis! In diesem Sinne rufe ich Ihnen zu: Die Ausstellung ist eröffnet!»
Händeklatschen. Von irgendwoher machte das Boogie-Woogie-Piano wieder auf sich aufmerksam, der Pianist sang: Kill me charming snake.
   Serafine hielt den Atem an: Bibi kam! Vom Bässerollen des Pianos untermalt, schritt sie in die Mitte des Ausstellungsraumes. Langsam. Lächelnd. Sie glitt an den Besuchern vorbei wie … Serafine suchte nach einem Vergleich … ihre Vorliebe für mythologische Frauengestalten spielte ihr das Wort Schicksalsgöttin zu. Ja! Bibis Auftritt hatte etwas schicksalhaft Beschwörendes! Vielleicht sogar Bedrohendes! Serafine schloss die Augen. Und riss sie sofort wieder auf, als könne sie sich so das atemberaubende Bild neu vor Augen holen.
   Das Piano war verstummt. Bibi war stehengeblieben. Blickte in die Runde. «Ich bin Künstlerin! Alles, was ich mache, ist Kunst!» sagte sie lächelnd. «Alles, was ihr heute machen werdet, wird Kunst sein!» setzte sie hinzu.
   Man quittierte Bibis Worte mit: «Ah!» Ein Piercinggesicht variierte mit: «Geil!» Und dann, einer einladenden Geste Bibi de Boos folgend, setzte man sich in Bewegung. Murmelnd. Erwartungsvoll. Verteilte sich vor den zugehängten Staffeleien.
Serafine ließ sich vom Sog der Neugierigen mitnehmen. Steuerte eine Staffelei an und fand eine Lücke zwischen der Blauhaarigen und dem Kahlkopf, an die sie sich erinnerte. Die Blauhaarige erklärte dem Kahlkopf gerade, zudringlich flüsternd, das Wort: Individualspaltung. Dann, mit einem «Aha!», verstummte sie. Serafine sah, wie die Tücher sich lautlos von den Staffeleien lösten und zu Boden glitten.
   Die Besucher vor den Staffeleien guckten.
   Guckten verblüfft.
   Guckten gebannt.
   Alle standen sich selbst gegenüber.
   Guckten sich an und wurden angeguckt.
   Sahen sich widergespiegelt in Bibi de Boos Bildern.
   Widergespiegelt?
   Waren es Bilder?
   Serafine bemerkte, dass ihrem Spiegelbild der Mund offen stand. Der Kahlkopf neben ihr leckte sich die Lippen. Unwillkürlich tat sie es ihm nach, leckte sich die Lippen. Aber sie sah es dann nicht. Der Mund stand ihr offen. Immer noch. Sie suchte nach einer Erklärung. Nur der erste Augenblick war festgehalten … war es so? Nur der Augenblick, als sie den Mund öffnete, der war zum Bild geworden … das sich nun aber … es veränderte sich! Zeitlupenlangsam flossen die Farben in dem Bild auseinander, die Konturen brachen auf und verzogen sich … Serafine sah, wie ihr Gesicht und ganz langsam der Bauch … wie sie selbst sich verwandelte, wie aus ihrem Gegenüber … aber was bedeutete das? … sie sah, wie ein grau ausfransender Spuk daraus wurde, so kam es ihr vor. Der Kahlkopf neben ihr verzog sich langsam zu einer matschenden Klecksgestalt. Andere, die in dem Bild um sie herumstanden, lösten sich in Strichfiguren auf.
   Jemand klatschte. «Bravo!»
   Jemand zischte: «Unverschämtheit!»
   Jemand murmelte: «Kunst verdattert!»
   Serafine starrte auf ihr zerfließendes Bild.
   Die Blauhaarige wandte sich an die Umstehenden: «Sie kennen mich, Herrschaften, Lilian Lösel, Kulturseite, Himmelsroder Rundschau, nicht wahr, da eröffnet sich uns doch eine Menge Interpretationsspielraum! Bibi de Boo hat den Betrachter, hat uns alle, ich glaube, so darf man es vermuten, eingesperrt in diesen Bildern, auf dass wir in der Begegnung mit uns selbst lernen, uns zu sehen …!
   «Macht sich über uns lustig, die Frau Künstlerin, oder?» kam als Zwischenruf.
   «Technischer Firlefanz!» wurde gerufen.
   Die Zwischenrufe schaukelten sich gegenseitig hoch.
«Wenn Sie uns fragen», ließ sich das klarsichtfolienverpackte Damenduo vernehmen, «Kunst ist immer auch ein Schlag ins Kontor, wie man hier sieht!»
   «Genau! Man fühlt sich irgendwie am Arsch!» bestätigte das Piercinggesicht kichernd.
   «Ich fühle mich wohltuend vereinnahmt!» merkte eine Dame mit Tellerhut an.
   «Kunst verwandelt!» erklärte die Kulturredakteurin der Rundschau.
   «Ach, Sie mit Ihrem Gequake!»
   «Für Ihre Ahnungslosigkeit bin ich nicht verantwortlich!» konterte die Kulturredakteurin.
   «Ich jedenfalls mache hiermit meine Rechte geltend!» brüllte über die Köpfe der Besucher hinweg unvermittelt laut und herausfordernd der Braungebrannte. «Nämlich: Ich bin Teil dieses Bildes hier, wie man noch deutlich sieht, also ist das Bild auch ein Teil von mir! Jemand Interesse? Mein Teil steht zum Verkauf! Mindestgebot 10.000 Euro!»
   Der Einfall fand Nachahmer. «Mein Teil zum Sparpreis!» bot der Schottenrock an. Weitere Teile wurden ausgerufen. Die Tattooschönheit empfahl sich im Sonderangebot, Ratenzahlung inklusive. Weitere Geschäfte wurden angezettelt. Stimmengewirr. Händeklatschen. Pfiffe. Gelächter. Chaos.
   «Hier geht es ja zu wie im Tollhaus!» Der Bürgermeister bat um Ruhe. «Hören Sie mir doch zu!» Er schwitzte enorm. «Frau Schmidt-Töff hat mir gerade nahegelegt, meine Damen und Herren, darauf hinzuweisen: Wir alle … nicht wahr, wir alle sind heute Teil eines Gesamtkunstwerks geworden, das es so noch nicht gegeben hat!»
   Jemand rief: «Kleinholz!»
   Der Bürgermeister tupfte sich die Stirn ab. «Das es zu bewahren gilt!» fügte er an. «Das wir als unzerstörbares Ganzes in den Kulturbesitz der Stadt überführen wollen …»
Protestrufe.
   «Ich unterstütze den städtischen Kulturbesitz!» ereiferte sich die Dame mit dem Tellerhut. Und setzte hinzu: «Bibi hat uns in einem Akt künstlerischen Wollens heute alle miteinander unsterblich gemacht, so muss man es doch interpretieren, nicht wahr?»
   Der Bürgermeister nickte dem Tellerhut dankbar zu. Neue Gebote wurden ausgerufen. Der Braungebrannte erhöhte seinen Preis auf 20.000 Euro.
   Wo war Bibi? Serafine kam sich plötzlich allein gelassen vor. Das Gewühl, der Tumult in der Galerie, alles engte sie jetzt ein. Machte sie hilflos. Sie entdeckte einen Stuhl. Dorthin kämpfte sie sich durch. Setzte sich. Versuchte zu Atem zu kommen. Wo war Bibi? Sie wollte in Bibis Gesicht sehen. Wollte ihr vom Gesicht ablesen, wie das Geschehen um sie herum zu begreifen war. Und da hämmerte wieder das Boogie-Woogie-Piano von irgendwoher auf sie ein. Serafine stand zitternd auf. Sah sich um. Hielt sich die Ohren zu. Raus … raus aus der Galerie! Beim Hinauslaufen hörte sie, wie der Braungebrannte auf 60.000 Euro erhöhte … und Bibi! Auf einmal sah sie Bibis Gesicht im Glas der Eingangstür gespiegelt … Bibi lächelte … es war ein böses Lächeln … Serafine spürte, wie etwas von diesem Lächeln auf sie überschwappte … das ihr unheimlich war … dem sie sich mit Wonne hingab …

Am nächsten Morgen – Serafine war mit stechenden Kopfschmerzen aufgewacht – las sie in einer Sonderausgabe der Himmelsroder Rundschau, die man ihr vor die Haustür gelegt hatte, folgende Meldung: Die Ausstellung Ichbetrachtung der bekannten Künstlerin Bibi de Boo, die am gestrigen Abend mit der Vernissage spektakulär eröffnet worden ist, musste noch am gleichen Abend für beendet erklärt werden, denn sämtliche Werke der Ausstellung sind unter bisher nicht ganz entschlüsselten Umständen zertrümmert worden. Seitens der Polizeibehörde verlautete, dass von einem als Indianerhäuptling beschriebenen Besucher jener «kreative Vandalismus» ausgegangen sein soll (Zitat: Bibi de Boo, Anmerkung der Redaktion), der das Vernichtungswerk in Gang setzte. Jener Besucher, so heißt es, der für eines der Werke De Boos als Miteigentümer Rechte reklamiert hatte, brachte den Verkauf seines Anteils ins Spiel, um am Ende einer tumultartigen Bieterschlacht eine Millionensumme dafür zu fordern. Er soll schließlich, weil sich offenbar kein Käufer fand, in einem Moment allgemeiner Orientierungslosigkeit das von ihm angesprochene Kunstwerk wortlos und brachial in Trümmer gelegt haben. «Dieser Umstand wird als Initialzündung einer allgemeinen Vernichtungshysterie seitens der Besucherschaft zu werten sein», so wörtlich im Redaktionsgespräch der Verhaltensforscher Hanno Oll, selbst Besucher der Ausstellung. Wie Oll mutmaßt, dürfte das letztlich auch zur akribisch durchgeführten Zerstörung sämtlicher Ausstellungsstücke geführt haben. Wobei Oll den Ruf «Kleinholz!» wiederholt gehört haben will. Nachdem gegen 23 Uhr ein Sonderkommando des städtischen Sperrmülldienstes in der Galerie angerückt war, um mit der Entsorgung der Ausstellungsüberreste zu beginnen, entlud sich die allgemeine Stimmung unter den Besuchern in einer plötzlichen und schnell ausufernden Panik. Der Grund, so der Leiter der örtlichen Polizeibehörde, Andy Waluschke: «Die Leute vom Sperrmüll wollen einsammeln, aber die Künstlerin hält sie auf und erklärt, der herumliegende Müll sei von jetzt an Teil der Zeitgeschichte und müsse darum Stück für Stück als eigenständige Schöpfung angesehen und in Verwahrung genommen werden.» Der bekannte Rechtsanwalt Täumeling gab später folgendes Statement ab: «Es ist, so denke ich, als ein Akt räuberischer Vorteilsnahme zu werten, dass ein Großteil der Kunsttrümmer von den Besuchern aus der Galerie verschleppt wurde.» – «Na, und der Sperrmülldienst», schloss Kommissar Waluschke seinen Bericht, «musste also unverrichteter Dinge abrücken.» Nach Recherche der Frühredaktion unserer Zeitung sollen bereits in der Nacht von Freitag auf Samstag die ersten Trümmerteile im Internet als Kunstobjekte zu Rekordpreisen angeboten und auch verkauft worden sein.
   Serafine ließ die Zeitung sinken. Sie lächelte. Es war Bibis Lächeln. Serafine wusste es, ohne in den Garderobenspiegel blicken zu müssen.

(aus – Eine Frau zum Hingucken
Erzählung von Peter Welk)